Wenn man Marionetten baut und ein kleines Theater betreibt ist man quasi vom Fach. Man hat dann eine klare Vorstellung von dem, was eine Marionette ist. Andere Menschen verstehen darunter etwas ganz anderes.
Was liegt also näher, als einfach mal nachzuforschen.
Ist ja ganz einfach - dachte ich mir. Nein nicht wirklich.
Was ich herausgefunden habe und was meine ganz persönliche Definition von Marionette ist, habe ich in dem folgenden Text aufgeschrieben.
Etwas Lebloses,
das durch Fäden, Drähte oder Stangen
so bewegt wird,
dass es belebt erscheint.
. . . aber Halt, werden einige sagen, da gibt es doch noch die Bedeutung von einem Menschen, der als Marionette unter dem Befehl eines anderen steht.
Ja, diese Verwendung des Wortes Marionette gibt es, aber Nein, die ist völlig falsch. Aber sowas von!
Warum? Weil es sich bei diesem Wort, wie es heutzutage verwendet wird, um ein Januswort handelt.
Habe ich auch erst lernen müssen, was das ist.
Was ist das überhaupt?
Ein Wort das zwei Bedeutungen hat, wobei die eine genau das Gegenteil von der anderen ist.
Diese Wörter sind sehr selten. Zwei der bekanntesten Januswörter sind: Untiefe und Quantensprung.
Untiefe:
Quantensprung:
Steig also lieber nicht in ein Boot, wenn der Kapitän eine Landratte ist und frag einen Verkäufer lieber, welchen Sprung das Produkt wirklich hat.
Es liegt also an den unterschiedlichen Sichtweisen. Oder, dass ein Wort falsch verwendet wird und das immer und immer wieder, sodass der ursprüngliche Sinn verloren geht, oder parallel weiter existiert.
Wie bei dem Wort
Marionette:
Hier haben wir eine Menge an Gegensätzen
Wie ensteht eine solche Vorstellung?
Die Sichtweise eines Zuschauers:
Was liegt also näher, als einen Menschen, der unter der perfekten Kontrolle eines anderen steht, als Marionette zu bezeichnen. Jeder, der auch nichts mit Marionetten zu tun hat, versteht diesen Vergleich.
Hier nun die Sichtweise des Marionetten-Spielers:
Ein Marionettenspieler würde niemals einen anderen Menschen als Marionette bezeichnen.
Genausowenig wie einen Menschen als Klavier zu bezeichnen. Wobei das wieder jeder versteht.
Interaktion zwischen Mensch und Marionette in einer "offenen" Spielweise - intuitiv, ohne Kontrolle, aber dennoch möglich
Dass ein Wort im Laufe der Zeit eine andere Bedeutung bekommt ist ganz normal.
Die Theater-Marionette fristet heutzutage jedoch ein unauffälliges Schatten-Dasein neben der übermächtigen negativen Bedeutung der Abhängigkeits-Marionette.
Manchmal ist das sehr wunderlich:
Traumdeutung
Hier steht Marionette immer im Zusammenhang mit Abhängigkeit.
Wen interessiert es schon, wenn ein Marionettenspieler von Marionetten träumt?
Gibt es da Versionen in der Traumdeutung?
Also jetzt kommt der Update 4.0, mit neuen Bedeutungen für alte Wörter?
Die Marionettenspieler dieser Welt haben gefälligst genauso zu träumen wie alle anderen, die nichts von Marionetten verstehen!
Und wenn ein Faden reißt? Eine Katastrophe in der Traumdeutung! Eine echte Herausforderung live auf der Bühne! Das macht das Spiel interessanter!
Hirnforschung
Gib einmal den Suchbegriff ein: "Freier Wille oder Marionette"
Einseitiger geht es wohl nicht. Als ob die Marionette das Gegenteil von Freiem Willen wäre.
Das Ergebnis sind hochinteressante wissenschaftliche Artikel, die aus Sicht eines Marionettenspielers schon in der Überschrift daneben liegen. Kann man ihnen ja nicht verübeln, wenn der Begriff Marionette viel besser klingt als "Abhängigkeit". Ist halt einfach schön aber falsch, macht aber nichts, weil das eh niemand merkt.
(Genauso wenig haben anscheinend viele nicht verstanden, dass die Frage, "Freier Wille oder Vorherbestimmtes Schicksal?" sich seit 1926 geklärt hat, eben auch im Zusammenhang mit der Entdeckung des Quantensprungs, Verzeihung das heißt ja mittlerweile Quantenübergang,)
Taijiquan
Wenigsten wird hier die Marionette nicht als negativer Ausdruck verwendet, sondern als Ideal.
Hier wird bemerkt: "Die vollendetste Darstellung von Taijiquan, die man sich vorstellen kann".
Das ist wirklich sehr schmeichelnd, bedarf aber einer genaueren Untersuchung.
Bei Taijiquan soll der Kopf wie an einem Seiden-Faden von oben gehalten sein.
Das ist eine gute Anleitung für Schüler, die sich mit Marionetten nicht auskennen.
Bei echten Marionetten ist an diesem Punkt entweder ein stabiler Draht oder ein fester Stock angebracht.
Ansonsten wird die Marionette an den Ohren aufgehängt.
Also wäre richtig: "Wir sind entspannt und stellen uns vor, wie wir an den Ohren nach oben gezogen werden."
Es wird auch nicht berücksichtigt, dass manche Marionetten von unten an einem Stock geführt werden.
Die Begründung geht auf jenes hochliterarische Werk zurück, das gerne mit Marionetten in Verbindung gebracht wird und dessen Autor nichts "Über das Marionettentheater" wusste, außer, dass er es sich vermutlich ein paarmal angesehen hat, nicht viel davon hielt und nach seinen eigenen Worten, ein anderer ihm erklärte, wo die Faszination liegt.
Heinrich von Kleist ging es 1810 nicht wirklich um das Marionettentheater, sondern um seine Kritik am Direktor des königlichen Theaters in Berlin. Da seine öffentliche Kritik durch Polizeizensur verboten wurde, versteckte er diese in seinem bekannten Traktat, das genausogut hätte heißen können: "Über das Fechten mit einem Bären".
Ich weiß. Es ist ziemlich ungerecht, jemandem der sich so um das Marionettentheater verdient gemacht hat, zu kritisieren. Unzweifelhaft hat Heinrich von Kleist ein hochliterarisches Werk geschaffen, das viele Menschen inspiriert hat. Aber er war eben eine Landratte, der für andere Landratten über das Meer schrieb. Autoren finden wunderbare Worte und ohne sie wäre das Leben nicht so reich und um eine Kunstform ärmer. In der Literatur geht es auch oft nicht um den Wahrheitsgehalt, sondern um Beispiele, Metaphern und Vergleiche. Für Leser sind diese Beschreibungen dann identisch mit dem Thema. Karl Mays Winnetou ist so ein Fall. Die Apachen hatten keine innige Beziehung zu ihren Pferden wie Winnetou. Sie waren ein Bergvolk. Ein Pferd macht da nicht viel Sinn. Es hieß bei ihnen "Großer Hund". Der kleine Hund diente als Lasttier und wenn man Hunger hatte, aß man ihn.
"Über das Marionettentheater" ist aber ein so dominierender Text (bei Laien), dass Fachliteratur in den Hintergrund gerät und was noch viel schlimmer ist: Kleist ist auf einmal Autor von einem Werk, das nicht von ihm stammt. Er kann da nichts dafür. Der Text lautet:
"Die Marionette ist zwar ein lebloses Gebilde aus Holz und anderen toten Stoffen, solange sie im Kasten des Puppenspielers hängt, sobald er sie aber in die Hände nimmt und sie an Schnüren oder mittels Stäbchen über seine kleine Bühne führt, erfährt sie eine merkwürdige Beseelung und ein beinahe unheimliches Eigenleben. Von diesem Augenblick an ist sie fast ein lebender Organismus mit allen Schiksalen und Leiden eines solchen."
Verfasser ist Richard Teschner (1879 - 1948) Maler, Bildhauer, Graphiker und Innenarchitekt.
Als Marionettenbauer erwies er sich als genialer Konstrukteur, als Theaterdirektor setzte er Maßstäbe.
Im Unterschied dazu der totale Gegensatz, ein Auszug aus Kleists Text:
"Inzwischen glaube er, daß auch dieser letzte Bruch von Geist, von dem er gesprochen, aus den Marionetten entfernt werden, dass ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinüberspielt, und vermittelst einer Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne."
Da bleibt von einem Eigenleben nicht wirklich viel übrig.
Hier nun der zweite von drei Sätzen:
Die
scheinbare Belebtheit entsteht,
wenn
drei Elemente zusammenwirken:
Spieler/in - Theaterfigur - Zuschauer/in
Begeben wir uns auf eine Reise durch die Zeit und durch die Welt:
Tschechien: Im Landesmuseum der Stadt Brünn (Brno) befindet sich ein Fund der einmalig ist.
Es ist eine Gliederpuppe, die zur Zeit als Älteste der Welt gilt:
Eine männliche Figur 13,5 cm groß aus Mammut-Elfenbein.
Sie ist ca. 28.000 Jahre alt.
Weiter können wir zur Zeit nicht zurückblicken.
Da Marionetten auch gerne als "Gliederpuppen an Fäden" bezeichnet werden, können wir behaupten, dass es sich hierbei auch um den Urahn aller Marionetten handelt.
Was war ihre Funktion? Haben unsere Vorfahren damit Theater gespielt?
Möglicherweise verwendete man sie, um im Feuerschein Schatten lebendig werden zu lassen.
Victoria Nelson geht in ihrem Buch "The Secret Life of Puppets" davon aus, dass es sich um
einen Talisman und eine Götterfigur handelte. Das ist sehr gut nachvollziehbar, denn wie bei Höhlenmalereien sind alle Kunstwerke des frühzeitlichen Menschen immer auch als mystische, magische und religiöse Mittel gedeutet worden.
Hier ganz im Anbeginn der beweglichen Puppen haben wir also über die Theaterfunktion hinaus, eine Bedeutung im Bereich des religiösen Kultes.
Ägypten:
XI./XII. Dynastie
2040-1783 v. Chr.
Im Rijksmuseum von Oudheden, Leiden, befindet sich eine Figur die Getreide mahlt.
Dazu wird sie mit Schnüren bewegt. Man kann sie also den Marionetten zuordnen.
Ebenso sind Krokodilfiguren erhalten, deren Maul mit Hilfe einer Schnur zuschnappen kann.
Bewegliche Figuren waren aber weit mehr als Spielzeug. Sie wurden eingesetzt zur Erziehung, dienten als ideale Vorbilder und vor allem waren sie im religiösen Bereich Stellvertreter von Göttern.
Den Toten wurden sie in die Gräber mitgegeben, damit sie diesen halfen und im Jenseits Arbeiten für sie ausführten, oder ihnen dienten. Dazu gehörten auch Konkubinen.
Griechenland:
Ab
700 v. Chr. findet man den "Boötischen Glockentypus".
Eine Gliederpuppe mit frei schwingenden Beinen.
Unter den späteren Figuren gibt es sogenannte "Neurospasmata"
(an Fäden gezogene Gliederpuppen).
China: Im Jahre
107 v. Chr. wird eine 1,93 m große Marionette in einem Grab in Shandong beigelegt.
Die Marionette heißt in China "kuilei", wörtlich übersetzt: "Sehr hässliches Ding".
Die Rolle die sie spielte war die eines Schamanen, der als "Fangxiang" verkleidet in das Grab hinabsteigt und dort den "Bösen Geist Fangliang" vertreibt, bevor der Leichnam hinabgelassen wird.
Eine Marionette führte hier also ursprünglich einen Exorzismus aus.
Natürlich entwickelte sich auch in China ein Marionettenspiel, das der Unterhaltung diente.
Das Bild unten ist ein Ausschnitt des Reliefs aus dem Grab von Wang Chuzhi, datiert auf das Jahr
923.
Es zeigt eine Musikgruppe der "Schönen Damen", doch das Detail links unten interessiert uns mehr.
Spanien: Miguel de Cervantes kannte natürlich im 16. Jh. Marionettenbühnen. Sein Antiheld Don Quichotte erstürmt eine solche und zerstört alle bösen Marionetten, um einem Ritter beizustehen.
Frankreich: Es heisst, im
17. Jh. entstand hier das Wort "Marionette".
Zurückblickend verwenden wir dieses Wort für alles, was unserer Vorstellung davon gerecht wird, unabhängig davon wo, wann und wozu sie gespielt wurden.
Egal wo wir hinschauen, in welche Zeit oder welches Land. Die Marionette hat die Menschen begleitet.
Sie ist wie jede Kunstform, in ihrer wirklichen Bedeutung unabhängig von Meinungen, Vorurteilen und dem eingeengten Blick eines Zeitgeistes.
Darum
Hier nun der dritte von drei Sätzen:
Ihre Rolle ist unbegrenzt.